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Sichtbarkeit schaffen: Historische Wissenschaftlerinnen der TU Dresden

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Von Vivian Weidner

„Frauen in der Wissenschaft sichtbar machen!“ ist ein erklärtes Ziel der Technischen Universität Dresden (TUD). Das Projekt „bright minds have no gender“ möchte ich im Folgenden genauer vorstellen möchte. Zunächst aber ein kurzer Blick zurück: Zwei Jahre lang widmeten sich Wissenschaftlerinnen der TUD jüngst verstärkt der Erforschung von Frauenbiografien, die die Hochschule prägten und in der Wissenschaft ihre außergewöhnlichen Wege beschritten. Durch gezielte Maßnahmen konnten an der TUD bereits einige historische Wissenschaftlerinnen sichtbarer gemacht werden. Ein besonderer Schritt war die Einweihung des ersten Frauenortes an der TU Dresden im Mai 2023 zu Ehren von Johanna und Gertrud Wiegandt. Historische Wissenschaftlerinnen wurden zudem als Namensgeberinnen gewählt, wie beim Johanna-Weinmeister-Campus, benannt nach der ersten Studentin der TUD oder dem Charlotte-Bühler-Programm, die erste Habilitandin der TUD und erste Privatdozentin Sachsens an einer Hochschule.

Um weiteren bemerkenswerten Frauen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, suchten wir im Sachgebiet Diversity Management weitere kreative Maßnahmen, bis die Idee zu einem Kalender entstand: Unter dem Titel „bright minds have no gender“ sollen damit zwölf historische Promovendinnen der TUD und ihre Biografien präsentiert werden. Eine Tabelle mit Namen, teils mit Biografien bildet die Grundlage. Aus der Liste möglicher Wissenschaftlerinnen ergaben sich zunächst dreizehn Frauen, zu denen uns auch Portraits vorlagen. Dies war ein entscheidendes Kriterium, denn wir wollen nicht nur Geschichten, sondern auch ihre Gesichter zeigen. Final entschieden wir uns für zwölf Frauen, deren Biografie aussagekräftig und im Detail bereits recherchiert sind.

Titelblatt des Kalenders (© TU Dresden, Diversity Management)

Da die Bildrechte nicht für alle Frauenporträts abschließend geklärt werden konnten und die Bilder, der Zeit geschuldet, teilweise in schlechter Qualität vorlagen, entschieden wir alle Frauen von der Grafikerin Viola Lippmann neu zeichnen zu lassen. Es folgte die Konzeption, das Recherchieren, Texte schreiben und der Satz, bis der Kalender im September 2023 in den Druck ging. Parallel zur Produktion des Kalenders, in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen), ging es an die Öffentlichkeitsarbeit. Denn Sichtbarkeit kann nur entstehen, wenn Menschen den Kalender wahrnehmen.

Monat für Monat erhalten die Interessierte auf der Webseite der TUD und ihrem Instagram-Kanal Einblicke in die Frauenbiografien, die das jeweils aktuelle Kalenderblatt ergänzen und so ein facettenreiches Bild vom Wirken dieser außergewöhnlichen Persönlichkeiten bieten. Um den Bogen in das Hier und Jetzt zu spannen und weitere Wissenschaftlerinnen sichtbar zu machen, arbeiten wir in den sozialen Medien mit aktuellen Promovendinnen zusammen, die in einem Video jeden Monat eine historische Promovendin präsentieren:

Wer sind nun die historischen Promovendinnen, die im Kalender vorgestellt werden? Hier zwei Beispiele:

Kalenderblatt zu Marie Frommer (© TU Dresden, Diversity Management)

Marie Frommer wurde am 18. März 1890 in Warschau geboren.[1] Sie absolvierte ihr Abitur und erwarb anschließend das Diplom als Lehrerin für Sprachen. Von 1911 bis 1916 studierte sie Architektur an der Königlichen Technischen Hochschule in Berlin und schloss ihr Studium mit dem Diplom ab. Anschließend arbeitete sie in verschiedenen Architekturbüros sowie im Stadtbauamt Dresden. Parallel hierzu begann sie 1917 ein Aufbaustudium an der damals noch Technischen Hochschule Dresden mit dem Studienschwerpunkt „Städtebau“. 1919 promovierte sie mit ihrer Arbeit zur „Flusslauf und Stadtentwicklung“. Sie war damit die erste promovierte Architektin Deutschlands. Es folgten einige Jahre Berufspraxis in Privatbüros im In- und Ausland. 1925 eröffnete sie ihr eigenes Architekturbüro mit mehreren Angestellten in Berlin.

Willy Römer: Porträt von Marie Frommer, 1929 (© bpk/Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer, WR_01409_01)

Schwerpunkt ihrer Arbeit war der Umbau von Läden, Geschäftshäusern und Hotels inklusive deren Inneneinrichtung. Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten erfolgte 1933 der Ausschluss von Marie Frommer aus dem Bund der Deutschen Architekten. Im Herbst 1936 wanderte sie nach England aus. Dort gelang es ihr nicht, beruflich Fuß zu fassen, weshalb sie sich entschloss 1939 weiter in die USA zu emigrieren. Frommer gelang es dann, sich als berufstätige Frau und Architektin zu integrieren. 1946 erhielt sie nach Ablegung einer Prüfung die Zulassung als „licensed architect“ im Staat New York, so dass sie wieder als selbstständige Architektin arbeiten durfte und ein Büro in Manhattan eröffnete. Sie entwarf Hotels, Büros und Häuserkomplexe (vor allem für Familien der unteren Einkommensschicht). Marie Frommer war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Sie starb 1976 in New York.

Kalenderblatt zu Gertrud Wiegandt (© TU Dresden, Diversity Management)

Gertrud Wiegandt wurde am 23. April 1898 in Dresden geboren. 1918 legte sie ihr Abitur ab und studierte zunächst für je ein Semester in Heidelberg und Leipzig Mathematik/Physik, ehe sie ihr Studium 1922 an der Technischen Hochschule Dresden mit der Prüfung für das höhere Schulamt beendete. Als 1923 eine Assistenzstelle an der Professur für Mathematik bei Prof. Gerhard Kowalewski vakant und sie dafür vorgesehen wurde, stellte sie die Ableistung des Probejahres zur Vollendung der Lehramtsausbildung zurück und nahm zum 1. November 1923 die Tätigkeit an der THD auf. Sie wurde als erste Frau an einen mathematischen Lehrstuhl der THD zur Assistenz ausgewählt und promovierte 1924. Nach mehrmaliger Verlängerung ihres befristen Arbeitsverhältnisses endete ihre Tätigkeit an der THD 1938. Gertrud Wiegandt wechselte für zwei Jahre in den Schuldienst. Ab Januar 1940 arbeitete sie als Industriephysikerin bei der Dresdner Firma Koch und Sterzel. Nach dem Krieg wirkte sie als Mathematiklehrerin. Am 28. Dezember 1983 starb sie in Dresden und fand auf dem St. Pauli-Friedhof ihre letzte Ruhestätte. 2023 wurde zu Ehren von Gertrud und ihrer Schwester Johanna der erste Frauenort an der TU Dresden eingeweiht.

Porträt von Gertrud Wiegandt (© Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden; Bestand 11125 Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, Nr. 15617)

An deutschen Hochschulen wurden Gebäude, Räume und Programme lange Zeit ausschließlich nach männlichen Wissenschaftlern benannt – an der TU Dresden ist das mit Blick auf die Gebäude bis heute so[2]. Hier kann schnell der Eindruck entstehen, dass es kaum Frauen gab, die gewürdigt werden könnten. Die Realität erzählt jedoch eine andere Geschichte, wie unser und viele weitere Projekte zeigen. Frauen waren da, früher wie heute und sie leisteten und leisten bedeutende Beiträge zur Wissenschaft. Friederike Berger vom Frauenstadtarchiv Dresden e.V. sagt dazu: „Sie sind lediglich weniger anerkannt und daher unterrepräsentiert – auch im kollektiven Gedächtnis. Daran kann öffentliche Sichtbarkeit etwas ändern, welche darüber hinaus dazu führt, dass Mädchen und Frauen durch (historische) Vorbilder, dazu ermutigt werden, sich selbst zu verwirklichen.“ Die Bedeutung weiblicher Vorbilder erstreckt sich insbesondere auf die MINT-Bereiche (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), in welchen Frauen historisch unterrepräsentiert sind. Durch die Sichtbarkeit von (historischen) Studentinnen und Wissenschaftlerinnen, vor allem der eigenen Hochschule, können Mädchen und junge Frauen weibliche Vorbilder entdecken.

Auch in Zukunft wollen wir die Rolle von Frauen in der Geschichte und Gegenwart der TU Dresden durch weitere Initiativen sichtbarer machen. Diese Recherchen werden nicht nur das Bewusstsein für die Errungenschaften dieser Frauen schärfen, sondern auch als Wissensquellen für unsere Studierenden und die akademische Gemeinschaft der Universität dienen.


Autorin

Vivian Weidner M.A. studierte Geschichte an der TU Dresden und arbeitete hier anschließend als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 2023 wechselte Sie in das Sachgebiet Diversity Management, wo sie seither ein Projekt zur Sichtbarmachung von herausragenden Wissenschaftlerinnen der TU Dresden betreut.

Der Kalender kann kostenfrei über das Diversity Management der TU Dresden erworben werden. Schreiben Sie uns hierzu gern eine E-Mail an diversity.management@tu-dresden.de oder holen Sie sich ihren Kalender direkt bei uns im Sachgebiet ab.


[1] Vgl. auch den Beitrag „Marie Frommer und Ingrid von Reyher. Frauen und technische Bildung (nicht nur) in Sachsen“, https://saxorum.hypotheses.org/5412.

[2] Vgl. die von der Kustodie der TU Dresden verantwortete, erstmals 1978 und zuletzt vor vier Jahren überarbeitet erschienene Broschüre: Gebäude und Namen. Die Campusentwicklung der TU Dresden, Dresden 2020.


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